Beurteilung Behandlungen

Wie wirken sich gesundheitsökonomische Fehlbeurteilungen von Behandlungen auf die Patientensicherheit aus?

Methode

Um die Kosteneffektivität einer medizinischen Behandlung zu beurteilen, werden die Kosten dem medizinischen Nutzen gegenübergestellt. Die Kosten lassen sich berechnen. Zur Beurteilung des Nutzens wird die zu erwartende Verbesserung der Lebensqualität eruiert. Die Ökonomie hat hierzu das Konzept der qualitätsbereinigten Lebensjahre entwickelt, das QALY-Konzept (quality adjusted life years). In der Formel QALY = T x Q steht T für die Anzahl an Jahren und Q für die gesundheitsbezogene Lebensqualität, welche auf einer Skala von 0 bis 1 normiert ist. Im Ergebnis sollen Kosten-Effektivitäts-Analysen in HTA-Berichten helfen, Behandlungen, deren Kosten im Verhältnis zum zu erwartenden medizinischen Nutzen zu hoch sind, zu identifizieren, um den behandelnden Ärztinnen und Ärzte zu empfehlen, diese möglichst nicht mehr zu machen. Die Krankenkassen können sich auf solche Berichte stützen, wenn sie die Bezahlung dieser Behandlungen im Einzelfall verweigern.

Fehlerquellen

Die Kosten wären grundsätzlich objektivierbar. Um zu prüfen, ob sie auch richtig errechnet wurden, stellen sich folgende Fragen:

  • Wurden die aktuellen Medikamentenpreise verwendet oder veraltete, so etwa, wenn Patente abgelaufen und billige Generika auf dem Markt sind?
  • Wurde ein Durchschnittsbetrag der Fallpauschalen-Sätze verwendet oder der Satz des teuersten Kantons?
  • Wurden Kosten für Behandlungsschritte mit eingerechnet, welche nur in ganz seltenen Fällen nötig sind und kaum je gemacht werden?

Die Nutzenseite ist weit weniger objektivierbar. Dr. Christine Blome hat hierzu eine wegweisende Arbeit geschrieben. Einerseits können Gesunde die Lebensqualität von Kranken nicht objektiv beurteilen. Andererseits schätzen aber auch die Patientinnen und Patienten selbst die Folgen gesundheitlicher Beeinträchtigungen anfangs falsch ein und gewöhnen sich schnell an die neue Situation. Es stellen sich folgende Fragen:

  • Mit welcher Formel wurde die zu erwartende Verbesserung der Lebensqualität berechnet? Ist diese Formel im wissenschaftlichen Diskurs etabliert oder wurde sie von den Autorinnen und Autoren entwickelt (oder angepasst), unter Umständen, ohne dies als Limitation der Studie offenzulegen?
  • Wurde die Behandlung über einen Zeitraum beobachtet, der so lange ist, dass der volle Nutzen der Behandlung eingetreten ist?
  • Welcher Betrag wurde für den Todesfall eingesetzt, und ist dies ein Betrag, der von den Beträgen wesentlich abweicht, die vergleichbare Kalkulationen hierfür einsetzen?
  • Wurden nur die durch die Behandlung vermiedenen medizinischen Kosten eingerechnet oder korrekt auch soziale Kosten, so etwa Einsparungen eines möglichen Arbeitsausfalls, einer möglichen Invalidenrente inklusive des Verlusts der Arbeitskraft für die Gesellschaft?
  • Wurden Kosten und Nutzen für eine repräsentative Patientengruppe errechnet, welche dem Durchschnitt entspricht, oder wurden sie für eine spezifische, seltene Patientengruppe errechnet, um auf dieser Basis Aussagen über alle Patientengruppen zu machen?
  • Wurde die Empfehlung auf der klinisch-medizinischen Ebene mit Einzelfällen validiert, um ihre Validität für die konkreten Patientensituationen zu gewährleisten?
  • Führt ein Einhalten der Empfehlung zu einer systematischen Nichtbehandlung und ergo zu einer Diskriminierung und Stigmatisierung ganzer Patientengruppe, so etwa von Mehrfachkranken, Alten und Behinderten, oder gegebenenfalls auch zur Geschlechterdiskriminierung, indem die Risiken von Frauen systematisch unterschätzt werden?  

Beispiele

Der HTA-Berichts «Statine zur Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen» des Swiss Medical Boards (SMB) gelangt mit einer falschen Hochrechnung zu Kosten von CHF 210’000.- für ein gewonnenes Lebensjahr und plausibilisiert auf dieser Basis eine restriktive Empfehlung in der präventivmedizinischen Behandlung von Gefässkrankheiten. Mit der Folge vermeidbarer Herzinfarkte und Hirnschläge. Der VEMS hat dies in seinem Review-Papier zum Bericht nachgewiesen, die Stiftung Varifo hat die Rechenfehler in einem Newsletter anschaulich aufbereitet. Der Autor der Kalkulation, Prof. Stefan Felder, hat diese Fehler dem VEMS gegenüber schriftlich zugegeben, argumentiert aber nichtsdestotrotz weiterhin mit den falschen Zahlen. Krankenkassen stützen sich auf die falsche Kalkulation des SMB, wenn sie in konkreten Einzelfällen die Zahlung von Behandlungen verweigern. Damit werden bei Patientinnen und Patienten Behandlungen rationiert, die wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind. Insbesondere unterschätzt die falsche SMB-Hochrechnung das Risiko von Frauen und diskriminiert diese somit systematisch. Medienschaffende, auch bei SRF Puls, stützen sich in ihren Berichten auf die falschen Zahlen und verbreiten so Fakenews, welche die Patientensicherheit gefährden können, indem in der Folge nötige Behandlungen verweigert oder abgebrochen werden. Die HTA-Taskforce des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) wurde bei der Erarbeitung eines eigenen Berichts vom falschen HTA-Bericht des SMB fehlgeleitet und konnte diese Fehler nur dank der Intervention des VEMS berichtigen.

Der SMB-Statinbericht ist ein besonders krasses Beispiel einer falschen Hochrechnung in einem HTA-Bericht. Diese Probleme zeigen sich aber auch in vielen anderen Hochrechnungen des SMB, wovon wir einige geprüft haben. Bei all diesen Berichten wurden einer oder mehrere Fehler gemacht, wie wir sie oben aufgelistet haben. Sie sind mit obiger Checkliste auch für gesundheitsökonomische Laien leicht zu identifizieren. Gleiches gilt für viele der Studien des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich. In diesen werden in der Regel spezielle Patientensituationen für bestimmte Patientengruppe hochgerechnet, um daraus allgemeine Aussagen über alle Patientengruppen zu machen. Oder es werden Behandlungspfade konstruiert, die in der klinischen Praxis nicht die Regel sind, sondern die Ausnahme, manchmal auch komplett inexistent.  Ethik und Politik sollten solche fehlerhaften Hochrechnungen zurück an die Autorinnen und Autoren schicken, mit der Bitte um Korrektur. Denn sind sie einmal operativ, so lässt sich kaum verhindern, dass sie, auch wenn die Fehler inzwischen erkannt sind und von den Autorinnen und Autoren zugegeben wurden, weiterhin Behandlungsentscheide fehllenken und in der Folge vermeidbares Leid, vermeidbare Todesfälle und vermeidbare Mehrkosten für unser Gesundheitswesen verursachen.