Beurteilung Behandlungsbedarf

Welche Folgen haben Fehleinschätzungen des vergleichenden medizinischen Bedarfs für die Patientensicherheit?

Methode

Um zu eruieren, ob in bestimmten Regionen ein medizinisches Überangebot besteht, werden die Zahlen der Eingriffe verglichen. Kantone, in welchen eine Behandlung überdurchschnittlich oft gemacht wird, stehen im Verdacht, diese Eingriffe häufiger zu machen, als sie nötig wären. Daraus werden Steuerungsentscheide abgeleitet, so etwa Angebotskürzungen, Spitalschliessungen oder Ärztestopps. Da sich der effektive Bedarf nur eruieren liesse, kennte man die jeweilige gesamte Krankheitssituation der Bevölkerung, wird also aus der Nachfrage auf ein mögliches Überangebot geschlossen.

Fehlerquellen

Die Coronavirus-Pandemie hat gezeigt: Länder, die ihren intensivmedizinischen Bedarf über Jahre unterschätzt haben, hatten in der Pandemie das Nachsehen und sind sehr schnell an ihre Kapazitätsgrenzen gestossen. Mit der Folge vermeidbarer schwerer Krankheitsverläufe und vermeidbarer Todesfälle. Die systematische Unterschätzung des medizinischen Bedarfs zeigt sich in der Schweiz aber schon seit Jahren: Wir haben heute viel zu wenige Medizinerinnen und Medizinern und können unser Gesundheitswesen nur dank der Rekrutierung von Ärztinnen und Ärzten aus dem Ausland überhaupt decken. Angebotskürzungen in einem Kanton können überdies zur Migration von Patientenströmen aus diesen Kantonen in andere Kantone führen. Die Nachfrage sucht sich also das Angebot und nicht umgekehrt. Wenn Angebotsaufstockungen höhere Behandlungszahlen zur Folge haben, dann wird fälschlicherweise geschlossen, es würde nun unnötig behandelt. Wahrscheinlicher aber ist, dass zuvor ein Unterangebot bestanden hat, das durch Ausweichen auf andere Kantone gedeckt wurde.

Vor allem aber ist am Gros der Studien der Schweizer Versorgungsforschung zu bemängeln, dass diese mit vorhandenen Datengrundlagen der Versicherer arbeiten. Diese sind zwar billig zu haben, oftmals sind darin die Variablen, welche zur Untersuchung der fraglichen Sachverhalte nötig wären, aber gar nicht erfasst. Dies führt dazu, dass diese Studien Aussagen machen, welche Einschätzungen sind, keine Evidenz. Diese Aussagen werden innerhalb der Studien dann zwar relativiert, an die Presse getragen und von dieser publikumswirksam aufbereitet werden aber vermeintliche «Beweise», die Medizin weite ihr Angebot unnötig aus, um in der Folge unnötig zu behandeln.

Im Ergebnis führen solche Fehleinschätzungen des medizinischen Bedarfs dazu, dass Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten haben, ihren Bedarf zu decken und deshalb unter Umständen unnötig lange auf einen Arzt- und/oder einen Spitaltermin warten müssen, unnötig schwer erkranken oder sogar unnötige Todesfälle erleiden. Davon betroffen sind vor allem jene, deren Migrationsmöglichkeiten eingeschränkt sind, so etwa Mehrfachkranke, Alte und Behinderte, aber auch jene Teile der Schweizer Bevölkerung, die aufgrund ihrer sozialen Situation und/oder ihres sprachlichen Hintergrunds ohnehin benachteiligt sind.

Beispiele

Die Studie Studie «Geographic variation in the costs of ambulatory care in Switzerland» von André Busato et al. ist wegweisend für eine komplett fehlgeleitete Versorgungsforschung der Schweiz. Wir haben sie von Prof. Jürgen Wasem reviewen lassen. Sein Bericht kommt zum Schluss, dass sie mangelhaft ist und in mehreren Punkten die Richtlinien der GEP verletzt.

Zur Studie «Mengen und Preise der OKP-Leistungen» von Reto Schleiniger et al. haben wir ebenfalls eine Einschätzung von Prof. Wasem eingeholt. Auch hier haben wir eine Versorgungsforschung unter Missachtung der GEP-Richtlinien.

Chancengleichheit bedeutet auch, gleiche Chancen auf medizinische Versorgung für alle. Wenn Regionen mit hoher Krankheitslast aufgrund dieser Krankheitslast als Überarzter-Regionen beurteilt werden, dann werden die medizinischen Angebote in diesen Regionen in der Folge abgebaut. Und damit haben wir die Situation, dass dort Leistungen abgebaut werden, wo sie am nötigsten sind. Das ist das genaue Gegenteil von Verteilgerechtigkeit, und deshalb sind solche Falschstudien auch ein Thema für die Ethik.