SAMW-Positionen

Wie steht die wichtigste gesundheitsethische Institution der Schweiz zu den hier aufbereiteten Problemen?

Bezüglich gesundheitsethischer Fragestellungen geht bei uns die stärkste Wirkkraft von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) mit ihrer Zentralen Ethikkommission (ZEK) aus. Sie erarbeitet die Weisungen, welche in der Regel von der FMH als Standesregeln aufgenommen werden, und an der SAMW orientieren sich auch unsere Ethikinstitute weitestgehend. In ihrem Papier «Rationierung im Schweizer Gesundheitswesen: Einschätzung und Empfehlungen» aus dem Jahr 2007 hat die SAMW die Grundlage für ihren Kurs der folgenden Jahre gesetzt. Sie definiert dort Rationalisieren als den «Verzicht auf nutzlose Leistungen», welcher immer angezeigt sei. Somit kann grundsätzlich jede Behandlung, die als «nutzlos» erscheint, gestrichen werden, auch wenn dies de facto auch mal heisst, zu rationieren, nicht zu rationalisieren.

Problematisch ist, dass die SAMW nicht spezifiziert, welche Instanz Hüterin über «nützlich» und «unnütz» sein soll, nach welchen Kriterien dies zu beurteilen sei, innerhalb welcher Gremien und Regulative es zu klären, in welchen Diskursen diesbezügliche Konsense zu finden etc. Die SAMW überlässt das Feld also weitestgehend der Gesundheitsökonomie. Das im Herbst 2014 publizierte SAMW-Positionspapier «Medizin und Ökonomie – wie weiter?» zeigt die Folgen, die bis heute wirken. Der VEMS hat das SAMW-Papier im Januar 2015 einer kritischen Würdigung unterzogen:

«Wer nicht sieht, dass jede Form von Globalbudgets und Kostenobergrenzen der Medizin zuwiderläuft, der kann (darf) auch nicht sehen, dass sie den medizinischen Leistungserbringern Anreize setzen, sich ihren Patienten gegenüber ethisch problematisch zu verhalten. Es bleibt ihm nur, zu raten, die Medizin möge sich doch bitte trotz aller falschen Anreize und auch dort, wo sie damit ihre Existenz bedroht, ethisch korrekt verhalten. Wer nicht sieht, dass die Hoheit über den Indikations- und Behandlungsentscheid bei der Medizin bleiben muss und Kostenfragen getrennt von Indikations- und Behandlungsentscheiden zu stellen sind, der kann (darf) auch nicht sehen, dass sämtliche Probleme, die unser Gesundheitswesen heute hat, das Problem der Qualitätseinbussen durch fehlgeleitete Effizienzsteigerung, das Problem der Interessenkonflikte der Gesundheitsfachleute, das Problem der Aushöhlung des Fürsorgemodells in der Arzt-Patienten-Beziehung, das Problem des Verlustes der intrinsischen Motivation der Leistungserbringer, das Problem der Deprofessionalisierung, das der Verzerrung der medizinischen Prioritäten, das des Vertrauensverlustes und des Überhandnehmens der Bürokratie – dass all diese Probleme darauf zurückzuführen sind, dass man die Medizin im Kern zerstört, entzieht man ihr die Hoheit über den Indikations- und Behandlungsentscheid.»

Fehlbeurteilungen der Behandlungen

Das QALY-Konzept ist im internationalen Diskurs umstritten. John Harris etwa untersucht es auf der Basis von Rawls Gerechtigkeitstheorie und stellt die Frage, ob ein Mensch mit dem Schleier der Ungewissheit die QALY eines Kranken maximieren würde. Es ist dies im Kern eine Kritik am Axiom der endlichen Mittel, und wie die konkrete Anwendung von QALY in der Praxis heute zeigt, wird ja auch so argumentiert, dass man behauptet, eine Maximierung der QALY lohne sich nicht unbedingt und zu jedem Preis. Dieses kann zu Situationen führen, in denen eine Behandlung unterlassen wird, obwohl die Mittel dafür da wären, um eine andere Behandlung zu priorisieren, bei der das Kosten-Nutzen-Verhältnis in der QALY-Kalkulation besser erscheint, obwohl es dies in der klinischen Realität und unter Einbezug sozialer Kosten unter Umständen noch nicht einmal ist. Die SAMW hat sich zu QALY nicht negativ oder zumindest kritisch geäussert, sondern tendenziell eher positiv. Sie unterstützt sogar das Swiss Medical Board SMB als Mitglied, während die FMH aus dem Board ausgetreten ist. Die SAMW hätte das QALY-Konzept nicht nur der FMH, sondern auch der Gesellschaft kritisch vorstellen müssen, damit wir als Souverän darüber hätten entscheiden können. Stattdessen hat sie dieses manipulationsanfällige Konzept an Ärzteschaft und Öffentlichkeit vorbei im Schweizer Gesundheitswesen operativ installiert, wo es nun dahingehend wirken kann, zu rationieren und ganze Patientengruppen zu benachteiligen.

Fehlbeurteilungen der Behandelnden

Von Anfang an waren die Verfahren der Versicherer in der Kritik. Einerseits mathematisch-statistisch, andererseits wegen ihrer kontraproduktiven ökonomischen Anreize, schliesslich auch ethisch und rechtlich. Die SAMW hat sich dazu nicht geäussert. Es ist auch ihrer Untätigkeit geschuldet, dass wir heute die juristisch problematische Situation eines in unserer Gerichtbarkeit integrierten Verfahrens haben, welches in einer rechtlichen Grauzone operiert und Ärztinnen und Ärzte dafür büsst, Mehrfachkranke, Alte und Behinderte korrekt zu behandeln, während Überarztung vom Verfahren nicht nur nicht erkannt, sondern sogar angereizt wird.

Fehlbeurteilung des Behandlungsbedarfs

Das Gros der Studien der Schweizer Versorgungsforschung enthält teilweise grobe Verstösse gegen die Richtlinien der GEP für gute epidemiologische Praxis. Noch nie hat die SAMW aber eine der Autorinnen, einen der Autoren angemahnt. Vielmehr nimmt die SAMW die Ergebnisse mancher dieser Studien in ihre Argumentation auf oder listet solche mangelhaften Studien sogar auf ihrer Homepage. Eine Akademie der medizinischen Wissenschaften, die Wissenschaftlichkeitsverstösse nicht ahndet, sondern adelt, läuft Gefahr, das in sie gesetzte Vertrauen zu verspielen.