Soziale Problematik

Kann sich die Schweiz ein unsoziales Gesundheitswesen leisten?

Die Sorge, wir könnten uns unser Gesundheitswesen nicht länger leisten, ist berechtigt. Nicht nachvollziehbar hingegen ist der Glaube, die Gesundheitsökonomie sei uns in dieser Situation die Retterin in der Not und ihr sei ergo blind zu vertrauen. Ihre Intervention in die Medizin hat deren Verwaltungskosten zwischen 1970 und 2009 um gegen 3‘000% ansteigen lassen, während die Ausgaben für Heilung und Pflege im gleichen Zeitraum keine 100% gestiegen sind. Wenn nun aber immer mehr Geld weg von der Heilung und Pflege hin zur Verwaltungs- und Krankenkassenindustrie fliesst, dann ist die Rationierung nötiger Leistungen über kurz oder lang unumgänglich. Und diese trifft die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft: die Kranken, die Alten, die Behinderten.

In erster Linie erwartet die Gesellschaft von der Medizin, dass ihren kranken und pflegebedürftigen Mitgliedern eine fürsorgliche und professionelle Heilung und Pflege nach dem neusten Stand der Wissenschaft zukommt. Die Medizin sollte aber auch darum bemüht sein, dass sich Krankheiten möglichst nicht ereignen. Drittens schafft eine funktionierende Medizin auf einer immateriellen Ebene Mehrwerte, indem sie einen Beitrag daran leistet, den sozialen Frieden sicherzustellen, weil sie der Bevölkerung die Gewissheit gibt, dass im Bedarfsfall für sie gesorgt wird. Ein intaktes Gesundheitswesen leistet also einen entscheidenden gesellschaftlichen Dienst. Wenn diese Erwartungen hingegen immer häufiger frustriert werden, dann schadet dies dem gesellschaftlichen Vertrauen.

Eine Gesundheitsökonomie, die mit ihrer verdeckten impliziten Normativität Entscheidungen im fragilsten Bereich menschlichen Seins und Zusammenseins bestimmt, bedarf der korrektiven Gegenkräfte. Ethik und Politik sind dazu grundsätzlich in der Lage. Wenn unsere Ethikinstitute sich zu Rationierungsentscheidungen quer stellen und Falschkalkulationen der Gesundheitsökonomie monieren, dann steht diese in der Rechtfertigungspflicht. Und dann wird es für sie auch zusehends schwieriger, fragwürdige, patientendiskriminierende Steuerungsinstrumente politisch durchzusetzen. Die Schweiz ist nicht zuletzt auch deshalb so reich, weil wir wissen: Wir können uns ein unsoziales Gesundheitswesen nicht leisten.