WZW-Verfahren

In diesem Thema engagieren wir uns, weil die meisten Krankheitsgeschichten mit einer Konsultation in einer ambulanten Praxis beginnen. Wenn die Versicherer deren Arbeit kontrollieren und damit beeinflussen, so haben wir hier ergo eine enorme Hebelwirkung. Im Guten wie im Schlechten.

Die Logik der Krankenkassenökonomie lässt sich an den Wirtschaftlichkeitsverfahren gut illustrieren. Diese arbeiten mit dem Vergleich von Durchschnittskosten, und solche lassen sich am effektivsten senken, wenn der Leistungserbringer möglichst viele Patientinnen und Patienten mit möglichst kleinen Kosten behandelt. Tendenziell ist die medizinische Zweckmässigkeit dieser Eingriffe eher fraglich, für das Überleben des Leistungserbringers sind sie aber unter Umständen wichtig. Denn es droht ihm eine Busse, wenn seine Durchschnittkosten 30% und mehr über denen der anderen Leistungserbringer der Vergleichsgruppe liegen. Somit besteht ein Anreiz, unzweckmässig zu behandeln, ebenso ein solcher, zweckmässige, aber teure bis sehr teure Behandlung tatsächlich Bedürftiger zu verweigern.

Lesen Sie herzu unser Positionspapier «Beurteilungsqualität und Behandlungskultur – Aufarbeitung der Wirtschaftlichkeitsverfahren» vom Juni 2019:

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Der VEMS verfolgt die Entwicklung der Wirtschaftlichkeitsverfahren seit seiner Gründung vor fünfzehn Jahren und seine Mitglieder teilweise noch länger. Immer wieder haben wir Behauptungen und Versprechen von angeblichen Verbesserungen hinterfragt und, wo sie nicht stimmten, mit Modellrechnungen die Fehler nachgewiesen. Fehler notabene, auf die auch andere Instanzen wie der Ethikrat der öffentlichen Statistik der Schweiz bereits 2006 hingewiesen haben, in einem Schreiben, in welchem das Verfahren als «Missbrauch der Statistik» bezeichnet wurde.

Die jüngste Entwicklung war die Verfeinerung des Regressionsindexes mit Pharmazeutischen Kostengruppen PCGs. Diese sollten die Morbidität einer Praxis abbilden, somit den Vergleich fairer machen. Es sind auf dieser Liste aber nur ein Drittel der Medikamente der Spezialitätenliste gelistet, und die Schwerpunkte sind falsch gesetzt: belohnt wird die kosteneffektive Behandlung, nicht die kosteneffektive Prävention. Wir haben hierzu ein Fachgutachten erstellt und ein juristisches Fachgutachten von Prof. Kieser erstellen lassen. Des Weiteren halten wir Vorträge zum Thema bei Interessengruppen, deren Arbeit vom Problem des untauglichen Verfahrens tangiert wird. Zögern Sie nicht, uns bei Bedarf anzufragen.

Die Probleme auf einen Blick:

Das wissenschaftliche Problem

Das Verfahren vergleicht die Durchschnittskosten des Arztes mit denen einer Vergleichsgruppe. Liegen sie 30% und mehr darüber, wird er angemahnt und in aller Regel gebüsst. Eine Beurteilung, die auf einem Vergleich der Durchschnittskosten ohne Berücksichtigung der diese Kosten verursachenden Patienten und deren Krankheiten beruht, begründet die Kosten des Arztes durch diese Kosten selbst. Das ist unwissenschaftlich und vom Parlament auch als Problem erkannt. Die auf parlamentarischen Auftrag hin gegründete Arbeitsgruppe WZW von Santésuisse und FMH kommt bei der Verbesserung der Methode allerdings nicht vom Fleck, weil weiterhin auf der Basis der Daten der Versicherer gearbeitet wird. Das Patientengut eines Arztes wird bei der ANOVA-Verfeinerung von Santésuisse nur durch die Berücksichtigung des Durchschnittsalters der Patienten relativiert, mit der Begründung, das Alter erkläre die Arztkosten hinlänglich. Dies ist nicht der Fall. Insgesamt begründen die Variablen der ANOVA-Verfeinerung die Kosten gerade mal zu zehn Prozent. Wir haben ein Problem mit den Vergleichsgruppen und mit der Datenbasis. Eine Erweiterung der ANOVA-Methode unter Einbezug patientenspezifischer Variablen wie Krankheitsbild, Morbidität und Mortalität ist unabdingbar, will man eine wissenschaftlich taugliche Methode. Da die Versicherer in ihrer Datenbasis aber keine endogenen klinischen Variablen erfasst haben und darauf bestehen, auf dieser Basis zu beurteilen, sehen die von der Arbeitsgruppe vorgeschlagenen “Lösungen” zur Begründung der Kosten neue exogene Variablen vor, jüngst etwa die Ärztedichte (siehe NZZ-Tribünebeitrag vom 2. Juni 2017). Damit würde das Verfahren allerdings noch unwissenschaftlicher, weshalb es bis auf Weiteres wohl beim derzeitigen unsachgemässen Verfahren bleiben wird, da angeblich keine besseren Lösungen möglich sind. Die gibt es, doch sie würden die Macht der Krankenkassen untergraben, weshalb sie systematisch verhindert werden (siehe BaZ-Beitrag vom 28.7.17).

Das ethische und das rechtliche Problem

6% der Patienten verursachen 35% der Kosten. Werden nur Kosten verglichen, so bringt sich ein Arzt, der in seinem Patientengut einen hohen Anteil an jenen 6% schwer- bis schwerstkranken Patientinnen und Patienten hat, in Schwierigkeiten. Damit ist das Verfahren systematisch patientendiskriminierend. Behandelt der Arzt teure Patienten nicht, um sich vor einem Verfahren zu schützen, so bricht er nicht nur mit seiner ärztlichen Ethik, er verletzt auch seine rechtlichen Pflichten, die sich aus dem Auftragsverhältnis mit seinen Patienten ergeben. Behandelt er sie weiterhin, so riskiert er ein Verfahren und eine Busse. Ein von den Versicherern geschaffenes moralisches Dilemma auf wackeliger Rechtsgrundlage. Prof. Ueli Kieser kommt in seinem VEMS-Gutachten vom Juni 2017 bei der Beurteilung des derzeitigen Verfahrens zum Schluss: «Insgesamt werfen bei dieser Ausgangslage die bisher vorgesehene Ausgestaltung des Schiedsgerichtsverfahrens und die vom Schiedsgericht befolgte Sachverhaltsermittlung erhebliche Bedenken auf. Es wird ernsthaft zu fragen sein, ob bei dieser Ausgangslage ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK gegeben ist» (siehe hierzu auch das VEMS-Gutachten von Prof. Kieser vom Januar 2011). Die Einschätzungen von Prof. Kieser decken sich mit unseren Erfahrungen an der Front. In mehreren Verfahren haben wir zu Unrecht belangten Ärztinnen und Ärzten mit unseren mathematisch-statistischen Grundlagen geholfen, zu erwirken, dass Santésuisse die unrechte Klage zurückgezogen hat. Das Verhalten von Santésuisse haben wir dabei als unfair und rechtlich problematisch erfahren (siehe hierzu unseren Blog).

Das gesellschaftliche und das ökonomische Problem

Ein Verfahren, das Ärzte, die teure, weil schwerkranke Patientinnen und Patienten behandeln, in Schwierigkeiten bringt, fördert nicht nur Diskriminierung, es bedroht auch den sozialen Frieden. Wenn es für den Arzt immer schwieriger wird, sich um die Schwachen und Schwächsten unserer Gesellschaft zu kümmern, wie dies seinem Berufsethos entspricht, dann handeln wir uns sozialen Zündstoff ein (siehe hierzu unseren Film auf YouTube). Stossend dabei ist, dass die Wirtschaftlichkeitsverfahren der Santésuisse sich überdies noch nicht einmal rechnen. Im Gegenteil: Senkend auf den Kostenschnitt wirkt es, wenn der Arzt neben den wenigen teuren bis sehr teuren Patienten, die den Schnitt heben, möglichst viele Patienten mit möglichst kleinen Kosten behandelt. Dies sind weitgehend Gesunde, die Behandlungen medizinisch oftmals eher nicht nötig. Damit treibt das WZW-Verfahren der Versicherer, indem es die Durchschnittskosten senkt, die absoluten Kosten. Und es sind Letztere, die wir mit unseren Prämien bezahlen. Die Versicherungen haben somit die Traumsituation jedes Unternehmens: mehr Umsatz durch steigende absolute Kosten, mehr Ertrag durch sinkende Durchschnittskosten. Was Wunder, sind sie nicht an einer Verbesserung des Verfahrens interessiert. (Siehe hierzu das VEMS-Gutachten «Beurteilung des Screening-Verfahrens der Krankenversicherer in der Schweiz zur Identifikation von Überarztung» von Prof. Dr. Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement Universität Duisburg-Essen.)